Gedanken zur "rechten Zeit"

In unserer Gesellschaft erledigen wir heutzutage Dinge am liebsten schon „frühzeitig“ oder „vorzeitig“. Manchmal noch lange bevor Dokumente abzugeben oder vorzulegen, Pläne umzusetzen, Prüfungen abzulegen oder Informationen zu präsentieren sind, möchten wir alles fix fertig erledigt haben, möchten schon perfekt vorbereitet sein. Wir versuchen gut zu planen, alles gut zu „timen“, streben ein optimales (Zeit-)Management an. Das spielt auch einem anderen Trend schön in die Hände: alles nicht nur vorzeitig, sondern auch schnell zu erledigen! Dinge möglichst schnell zu erledigen ist heute extrem positiv besetzt. Es spart uns Zeit, sagen wir und freuen uns über die diversen Tools, die uns das Leben erleichtern sollen. Wir müssen heute unsere Wäsche nicht mehr händisch waschen, viele Haushalte haben einen Geschirrspüler, Supermärkte gibt es um jede Ecke, damit Einkaufswege kurz gehalten werden können, das Auto hat das Navi trotzdem schon eingebaut, Google weiß auf Knopfdruck alles und die Mikrowelle ist auch viel schneller als der Herd – das hilft uns sehr beim Zeitsparen.

Was aber ganz interessant ist zu beobachten: Wir sparen Zeit an allen Ecken und Enden – und haben immer weniger davon. Wir rennen von hier nach da, legen Strecken so schnell wie möglich zurück, essen lieber unterwegs und halten uns an unseren super Zeitplan – und haben dauernd das Gefühl, die Zeit läuft uns nur so davon. Nicht nur gibt es kaum Verschnaufpausen, wir haben einfach keine Zeit. Keine Zeit für unsere Freunde, die wir schon lange wieder einmal treffen wollten, keine Zeit für unsere Kinder, mit denen wir schon seit Wochen wiedermal einen Ausflug machen wollten – und vor allem keine Zeit für uns selbst. Wie lange ist es her, dass ich das 2. Kapitel von diesem einen Buch endlich lesen wollte? Wollte ich mich nicht am Wochenende einfach mal eine Stunde in die Badewanne legen? Wie war das noch mit dem Spaziergang am Bach?

Was ganz schlecht ist in unserer Gesellschaft, ist Dinge (zu) spät zu erledigen. Dafür haben wir nicht einmal ein Wort in der deutschen Sprache – so wie „frühzeitig„ oder „vorzeitig“. „Spätzeitig“ oder „nachzeitig“ gibt es nicht. Denn wenn ich (zu) spät dran bin, bin ich schon nicht mehr in der Zeit – das habe ich verspielt. Und tatsächlich ist das Funktionieren unseres komplexen Gesellschaftssystems darauf angewiesen, dass alle zugehörigen Personen ihren Part „rechtzeitig“ verrichten, ihre Aufgaben pünktlich erledigen.
Aber was würde passieren, wenn die Schulen erst viel später öffnen würden, weil die Kinder ausgeschlafen viel aufmerksamer und lernbegeisterter sind? Wenn die Eltern entsprechend nicht „rechtzeitig“ zur Arbeit erschienen und wenn die dauernd laufenden Maschinen, die unsere Abermillionen von Konsumgütern produzieren, ein paar Stunden mehr am Tag ruhen müssten, weil niemand da wäre, um sie zu bedienen? Würde wirklich alles zusammenbrechen? Oder würde sich nur einiges relativieren, müssten wir einfach unsere Prioritäten neu setzten?

Und heißt „rechtzeitig“ auch wirklich „zeitgerecht“? Wird es der Zeit gerecht, wenn wir sie vor uns her treiben oder ihr nachjagen? Kann es sein, dass bei all der Geschwindigkeit die Qualität zu leiden beginnt? Dass uns das irgendwann selbst auf den Kopf fällt, weil wir zwar Zeit gespart haben beim Schnell-Fertigwerden, aber vielleicht dabei eigentlich nichts gelernt haben, etliche mehr Fehler gemacht haben und wichtige Punkte außer Acht gelassen haben? Weil schlussendlich nicht nur die Sache, sondern auch ich vollkommen erledigt bin und erstmal eine Woche krank werde?
Krankheit ist ein interessanter Zustand, denn er setzt unsere Zeitpläne meistens einfach so von jetzt auf gleich komplett außer Kraft. Plötzlich habe ich den ganzen Tag Zeit, auch wenn ich sie vielleicht nicht wirklich nutzen kann, wie ich es schon lange gerne tun würde, weil ich im Bett liegen muss. Vielleicht nutzt mein Körper sie und holt mehrere Wochen Schlaf nach, die ihm schon lange gefehlt haben.
 
Der Rhythmus ist unnachgiebig pures Zeitmaß im Hier und Jetzt.
Wir können zwar versuchen zu Musik schneller zu tanzen, als der Rhythmus läuft – es kann aber gut sein, dass wir wenig Freude dabei haben, weil wir nie am Puls sind und weil wir nie in den Flow kommen und darauf surfen können.
Das ist das größte Geschenk, dass Rhythmus und Rhythmusworkshops uns machen können: Hier und Jetzt den Puls zu spüren – nicht vorzeitig (es gibt nämlich ausnahmsweise gar nichts zu erledigen) und nicht im Nachhinein. Über den Rhythmus muss ich nicht nachdenken, um von ihm getragen zu werden. Ich kann mich einfach Hier und Jetzt vom Flow mitnehmen lassen, darauf surfen und die Zeit da erleben und genießen, wo ist: in diesem Moment. Jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Und ich kann neugierig sein, was sie mir bringt, was ich im Spüren entdecken kann. Im Flow geschieht alles zur „rechten Zeit“. Können wir das zulassen?
Wir können es lernen!